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Tischrede zum Stiftungsfest der GEMEINNÜTZIGEN

Auf der Suche nach einem Thema für die Tischrede heute, habe ich mich gefragt, was mich im Moment am meisten bewegt. Und das sind - nicht wirklich verwunderlich - die Krisen, mit denen wir es im Moment zu tun haben und die es durchzustehen und zu bewältigen gilt.
Was ist eigentlich eine Krise, der Begriff wird im Alltag ja oft inflationär verwendet. Wie leicht sagt man: ich bekomme eine Krise, ich habe eine Krise, und dabei handelt es sich oft nur um falsches Zeitmanagement oder eine Floskel.
Nach meinem Brockhaus - ich dachte, warum nicht auch mal dort nachschlagen - ist eine Krise allgemein gesehen eine schwierige, gefährliche Lage oder Zeit, in der es um eine Entscheidung geht. Oder wie das Krisenforschungs-Institut der Universität Kiel es formuliert: es sind interne und externe Ereignisse, durch die akute Gefahren drohen für Lebewesen, für die Umwelt, für Vermögenswerte oder für die Reputation eines Unternehmens bzw. einer Institution.
Charakterisiert wird die Krise durch eine dringliche Notwendigkeit von Handlungsentscheidungen, ein durch die Entscheidungsträger*innen wahrgenommenes Gefühl der Bedrohung, ein Anstieg an Unsicherheit, Dringlichkeit und Zeitdruck und das Gefühl, das Ergebnis sei von prägendem Einfluss auf die Zukunft. Außerdem haben es die Entscheidungsträger oft mit unvollständigen oder verfälschten Informationen zu tun.

Für die Betroffenen stellt die Krise bisherige Erfahrungen, Normen, Ziele und Werte in Frage und hat oft einen bedrohlichen Charakter und in der Folge erleben wir dann Verzweiflung, Wut, Zorn, Überforderung oder auch Nicht-wahrhaben-wollen.
Und das alles, das ganze Wechselspiel der Gefühle, erleben wir gerade in Politik und Gesellschaft.
Unser Lebensgefühl hat sich verändert, Selbstverständliches ist nicht mehr selbstverständlich. Wir sind ängstlich und verunsichert.
Wir sorgen uns wegen des Klimawandels um unseren Planten Erde. Wir haben in der Corona-Epidemie, nicht nur um unsere Gesundheit gebangt und erhebliche Einschränkungen in unserem persönlichen Leben hinneh-men müssen, wir haben auch die Anfälligkeit der wirtschaftlichen Systeme, die Folgen überzogener Globalisierung hautnah erlebt.

Und dann der Ausbruch des russischen Angriffskriegs in der Ukraine. So dicht vor unserer Haustür hat es uns erschüttert und erschreckt. Und das tut es noch immer. Meine Generation hatte diese Bedrohung nach 77 Friedensjahren in Deutschland gar nicht mehr auf der Rechnung.
Und als Folge erleben wir mit der Energiekrise unsere Abhängigkeit von fremden Ressourcen. Und daraus folgen finanzielle Belastungen, die in einem realen Wohlstandsverlust münden können, trotz aller Bemühungen der Bundes- und Landesregierung dagegen zu steuern.
Dann der Schock erkennen zu müssen, wie verwundbar unsere Infrastruktur ist, wie wenig gewappnet gegen Sabotage, von welcher Seite aus und aus welchen Gründen auch immer.

Und schließlich erheben sich - nicht unüblich in solchen Zeiten - dann auch noch rechtsextreme Kräfte und bedrohen unsere Demokratie.
Und nun?
Machen wir es wie Ina Müller, die singt:
Ich halt‘ die Luft an, bis alles wieder stimmt
Die Wolken sich verzieh’n, ‚ne gute Zeit beginnt
Ich halt‘ die Luft an, bis alles wieder geht
Die Welt, wie ich sie kenn‘, sich einfach weiterdreht.

Das Lied stammt aus dem Jahr 2020, geschrieben unter dem Eindruck von Corona. Da mag das noch eine Lösung gewesen sein. Das gilt heute aber ganz sicher nicht mehr. Abwarten und Tee trinken ist keine Option.
Ich maße mir nicht an, Patent-Lösungen für die zahlreichen Krisen und Herausforderungen zu präsentieren. Mir sind alle, die für komplexe Fragestellungen einfache Antworten parat haben, immer schon suspekt gewesen.
Ich möchte lieber die Frage stellen, was macht uns stark in Krisen, so dass wir sie bewältigen und durchstehen können.
In diesem Zusammenhang fällt regelmäßig das Stichwort Resilienz, ein Begriff, den mein Brockhaus aus dem Jahr 1996 noch gar nicht kennt.

Früher sagte man vielleicht einfach, in Krisen braucht es Widerstandsfähigkeit und Anpassungsfähigkeit, man gebrauchte das Bild des Stehaufmännchens.
Was also ist Resilienz, warum sind einige Menschen widerstandsfähiger als andere? Ist das angeboren oder kann man es auch lernen?
Ursprünglich ist Resilienz ein Begriff aus der Physik. In der Materialkunde bezeichnet er Werkstoffe, die auch nach extremer Spannung wieder in ihren Ursprungszustand zurückkehren, sich also verformen lassen und dennoch wieder in die ursprüngliche Form zurückzufinden.
In der Psychologie bezeichnet Resilienz die Fähigkeit Krisen zu meistern und traumatische Erlebnisse zu verkraften, und dies unter Umständen sogar als Anlass für persönliche Weiterentwicklung zu nutzen.
Wie schafft man es also in Krisenzeiten möglichst einen kühlen Kopf zu bewahren und sich nicht tatenlos in sein Schicksal zu ergeben?

Als stärkende Faktoren gelten die Unterstützung durch Familie, Freunde und Gemeinschaft, die Toleranz für Ungewissheit oder auch die positive Einstellung gegenüber Problemen und auch die christliche Hoffnung auf Gnade und Gerechtigkeit.
Und die Überzeugung, dass ich meine Umgebung durch eigenes Tun nachhaltig gestalten kann. Man nennt das auch Selbstwirksamkeitserwartung. Ich bin nicht Opfer, sondern kann mein Schicksal durch eigenes Handeln beeinflussen und daraus unter Umständen sogar einen Gewinn für die Zukunft erzielen.
Das bedeutet nicht hart zu sein, im Gegenteil. Resiliente Menschen sind oft verständnisvoller, geben Schwächen eher zu und sind weniger aggressiv.

Und wichtig sind natürlich auch kognitive Fähigkeiten, denn Bildung macht fähig angemessen zu reagieren und zu reflektieren.
Und es gehört auch Kreativität dazu.
Kreativität ist die Fähigkeit, etwas zu erschaffen, das neu oder originell und dabei nützlich oder brauchbar ist. Sie ist damit die Grundlage für die Ideenfindung und eine der wichtigsten Voraussetzungen für Innovation.
Und diese Kreativität kann man gerade auch mit der Kunst oder der Musik entwickeln und unterstützen. Besonders schöne Beispiele sehen wir gerade in der Ausstellung mit dem Titel „Wanderungen -Woher komme ich, wohin gehe ich?“ in unserer Kunstschule, die seit 20 Jahren Raum und Freiheit gibt, Kreativität zu entfalten. Ebenso wie die Schauspieleschule und unsere Musikschule. Denn tatsächlich heißt es, dass Singen mutig macht. Beim Singen werden Botenstoffe freigesetzt, die sich positiv auf das Wohlbefinden auswirken. Sie dämpfen Symptome wie Angst, Depres-sion oder Aggression, man muss sich beim Singen öffnen und lockern.

Kunst und Kreativität geben uns auf besondere Weise die Möglichkeit uns auszudrücken, zu verarbeiten, was bedrückt und Neues zu wagen.
Und nicht zuletzt gehört zur Resilienz auch, etwas für sich selbst zu tun, um die eigene Seele zu stärken. Sich Zeit zu nehmen und den Mitmenschen in den Fokus seiner Beziehungen zu rücken. Den Anderen, die Andere zu sehen, zuzuhören und es auch für möglich zu halten, dass sie oder er recht haben könnte. In den Dialog treten. Der Mensch ist ein soziales Wesen, oder um mit Marc Aurel zu sprechen: wir sind für die Gemeinschaft geschaffen wie Füße, wie Hände, wie die untere und obere Reihe unserer Zähne.
Oder wie Arthur Schopenhauer sagte. Der Mensch für sich allein vermag gar wenig und ist ein verlassener Robinson: nur in der Gemeinschaft mit den anderen ist und vermag er viel.

Gruppen sind in der Regel dann resilient, wenn sie einen starken Zusammenhalt haben, das WIR betonen und sich durch starke Werte auszeich-nen, die von den meisten Gruppenmitgliedern geteilt werden.
Schon Aristoteles stellte fest, dass das Ziel der Polis das Glück, das gute Leben der Bürger ist und der Einzelne sein Glück nicht durch ein nur privates Leben und durch eine nur private Bedürfnisbefriedigung erreichen kann. Glück erreicht der Bürger nur, wenn er sich für das Allgemeine engagiert.

Und vorne im Eingang unseres Gesellschaftshauses lesen wir auf der goldenen Tafel in einem Satz aus dem Jahre 1800 von Dr. Nikolaus Brehmer - einem früheren Direktor unserer Gesellschaft - unter anderem …..denn wer in einem kleinen Freystaat Bürgerglück genießen will, muss es gerne schaffen helfen.
Es geht um das Gemeinwohl und nicht nur um bloße Einzel- oder Gruppeninteressen.

In unserer Gesellschaft ist leider eher eine dazu gegenläufige Einstellung zu beobachten. Ein Rückzug auf eigene Interessen. So hört man in Vereinen häufig die Frage: „Was habe ich davon, wenn ich eintrete, mich engagiere?“
Und nicht nur Vereine haben mit sinkender Mitgliederzahl zu kämpfen, sondern auch die politischen Parteien, die unsere Demokratie doch gewährleisten, die Kirchen und die Gewerkschaften. Zu beobachten ist die Neigung eher Mitglied einer Bürgerinitiative zu werden als einer Partei - also eher eigene Interessen in den Vordergrund zu stellen.

Aber so kann es eben nicht funktionieren. Wenn jeder nur sich selbst im Blick hat und im Übrigen dann nach dem Staat gerufen wird, wenn der eigene Plan nicht aufgeht, kann es nicht funktionieren. Wer ist denn der Staat? Womöglich die Eine oder der Eine an der Spitze, der Antworten auf alles hat? Davor mögen wir bewahrt bleiben, das hatten wir schon.
Wir alle sind der Staat und haben die Verpflichtung - und ganz besonders in Krisenzeiten - uns nach unseren Möglichkeiten und Talenten in unserem Umfeld für das Gemeinwohl einzusetzen.
Und für das Gemeinwohl, insbesondere das Wohl der Bürger Lübecks, setzt sich seit der Gründung im Jahr 1789, also seit nunmehr 233 Jahren, unsere Gesellschaft die Gemeinnützige ein. Sie fördert mit ihren Einrichtungen und Aktivitäten die Bildung, Kunst und Kultur, den Gedankenaustausch und das soziale Engagement.
Wie großartig, dass wir schon immer alles zu bieten hatten und auch jetzt haben, was Menschen stärkt und befähigt Krisen zu meistern.

Ich meine, wir können mit Recht stolz auf uns sein, und sollten das auch selbstbewusst in die Öffentlichkeit tragen.
Krisen gab es zu jeder Zeit und es wird sie immer geben. Doch wir können unsere Erfahrung teilen, dass wir nicht die Luft anhalten oder uns verkriechen müssen, bis sie vorüber sind, sondern dass wir eine Haltung weiterzugeben haben, die stark macht, mitfühlend und kreativ. Resilient eben.

(Angelika Richter, Direktorin der GEMEINNÜTZIGEN)