Sabine Grofmeier (Klarinette) und Marina Komissartchik (Klavier) (Foto: Manfred Wichmann)

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30. Internationales Kammermusikfest im Kolosseum

Hans-Dieter Grünefeld, Lübeckische Blätter

Zwei Persönlichkeiten prägten das unabhängige Internationale Lübecker Kammermusikfest: Evelinde Trenkner-Boie (✝︎ 2021) und Hermann Boie (✝︎ 2016). Sie − Prinzipalin und künstlerische Direktorin, er − wortgewandter Moderator und Conférencier. Beide hatten diese zur Institution gewordene Konzertreihe klassischer Musik am Himmelfahrtwochenende vor dreißig Jahren, zugleich mit der Xaver und Philip Scharwenka Gesellschaft e.V. als Veranstaltungskörperschaft, gegründet und zu überregionaler Bedeutung und Wirkung gebracht. Ihr Konzept: sorgfältig ausgewählte Werke der so genannten Kaiserzeit (1871-1918), insbesondere auch der genannten Komponisten-Brüder, alternierend von (Welt-)Stars und jungen Talenten zu präsentieren.

Die 30. Ausgabe des Kammermusikfestes fand wegen der Pandemie-Unterbrechung mit zwei Jahren Verspätung statt, und Evelinde Trenkner-Boie konnte dieses Jubiläum nicht mehr selbst erleben. Aber sie hatte das Programm bereits festgelegt und die teilnehmenden Musiker kontaktiert, sodass  Dagmar Pohl-Laukamp in ihrer Funktion als 2. Vorsitzende der Scharwenka Gesellschaft die Organisation übernehmen konnte. Vor dem eigentlichen Start würdigte sie Evelinde Trenkner-Boie als unermüdliche Förderin der Kammermusik und herausragende Pianistin − in einem kurzen Video konnten anwesende Freunde und das Publikum sie noch einmal hören und sehen, wie sie temperamentvoll einen polnischen Tanz von Xaver Scharwenka interpretierte. Mit seinen heiteren „Bilder aus dem Süden“ begann dann der Abend mit Musik für Klavierduo, und Sontraud Speidel, langjährige Partnerin von Evelinde Trenkner-Boie, hatte nun statt ihrer die junge Pianistin Franziska Lee zur Seite. Zu Scharwenkas Genre-Motiven passte die dunkle Hebriden-Ouvertüre (Fingals Höhle) und die turbulente Atmosphäre des Allegro aus der Sinfonie Nr. 3 (Schottische) von Felix Mendelssohn Bartholdy. Damit hatten die beiden bestens kommunizierenden Damen einen deutlichen Epochen-Akzent gesetzt.

Allerdings blieben diese historischen Zeitgrenzen nicht verbindlich fürs Repertoire. Schon beim nächsten Ensemble des ersten Abends, dem Eliot Quartett, stellvertretend wegen krankheitsbedingter Absage des ursprünglich eingeladenen Vogler Quartetts, erweiterte sich der Radius zum Barock und zur Wiener Klassik. In wechselnden Besetzungen war ein ungewöhnlicher Querschnitt aus umarrangierten Bach-Werken in formidablen Interpretationen zu hören: der Choral „O Ewigkeit…“ und der Contrapunctus I in Viererkonstellation, die Sinfonia f-Moll für Trio, die Goldberg-Variation 7 als Duo für Violine und Cello, und die Prélude aus der Suite G-Dur für Cello solo. Das Adagio und die Cavatine aus dem Beethoven-Streichquartett B-Dur erfreuten durch freundliches Pathos. − Gleiche Komponisten-Kombination hatte der Pianist Haiou Zhang parat, einst von Evelinde Trenkner-Boie einzeln vorgestellt: Das Largo aus der Bach-Triosonate für Orgel war melodisch ziseliert, während er die Beethoven-Sonate Nr. 32 mit perfektionistisch-virtuoser Hingabe spielte und dafür begeisterten Applaus bekam.

Der zweite Abend war Duo-Formationen gewidmet. Als melodisch-süchtigen Cantus in vielen Modifikationen empfanden der Cellist Rafael Menges und seine Klavierpartnerin Yoko Kuwahara die Sonate A-Dur von César Franck, wofür sie enthusiastisch gefeiert wurden. Ebenso die Pianistin Marina Komissartchik und die vielseitige Klarinettistin Sabine Grofmeier, deren Darbietung des spieltechnisch für beide sehr anspruchsvollen Grand Duo Concertant des Romantikers Carl Maria von Weber verblüffendes Einverständnis zeigte. Tempo im Jazzflair hatte dann „America“ von Leonard Berstein und Klezmer-Sentiment „Shalom Aleichim“ (ein Friedensappell) von Béla Kovács. Das auch verbal kommunikative Duo hatte so bei seinem Festivaldebüt beste Resonanz beim Publikum. Wie auch die Cellistin Maria Kliegel, die schon mehrmals zuvor in Lübeck reüssieren konnte. Ihr Klavierpartner Oliver Triendl und sie entfachten eine mediterrane Brise mit der Ravel-Sonate (op. postthum), neigte sich zu den introvertierten Klangspektren der Sonate op. 4 von Zoltán Kodály und dem intensiven Dialog der Chopin-Sonate E-Dur zu, so ernste Würde und nachdenkliche Vitalität verbindend.

Miniaturen eigener Provenienz aus gegenwärtiger Perspektive bot das Morten Kargaard Septett aus Dänemark in fast paritätischer Besetzung mit vier Frauen (an Trompete, Oboe, Violine, Cello) und drei Männern (an Gitarre, Bratsche, Kontrabass). Die Arrangements der Songs oder Szenen wie „Wrong Winter“ oder „Indian Shaman“ waren polyphone Puzzles, die zwischen Impressionismus und Jazz changierten. Nach dieser durchaus anregenden stilistischen Exklave übernahmen die Schwestern Lea (Violine) und Esther Birringer wieder das klassische Szepter. Sie brillierten mit der Suite populaire espagnole von Manuel de Falla, wobei Temperament und prächtige Satzpräsenz überzeugten. Wie ein Tastentanz wirkte das von Esther Birringer aufgeführte Andante maestoso aus der Nussknacker-Suite von Peter Tschaikowski, während Lea Birringer mit der Sonate Nr. 2 von Eugène Ysaÿe obsessive Virtuosität demonstrierte und mit den Zigeunerweisen von Pablo de Sarasate noch einmal zur Publikumsfreude steigerte. Diese Euphorie hielt sich auch beim Festival-Finale, für das eigentlich das Trio ClariNoir auf dem Plan stand. Doch vom Original-Personal war nur Ilja Ruf anwesend, nicht sein Bruder Ivo und Nikolai Gast. Stattdessen übernahmen sein Vater Bernd, Professor an der Musikhochschule, und die versierte Kommilitonin Lina Bornemeier die fehlenden Parts. Solo mit Zirkularatmung führte Bernd Ruf mit repetetiven Mustern zu seiner Klangvision von „BachFlussMeer“, während Ilja am Klavier Imaginationen des Jazz-„Nighttrain To Brooklyn“ evozierte. Die Premiere seines „Adios Maestro / Maestra“ wurde nun zum empathischen Epitaph für Raúl Jaurena, Bandoneonist, langjähriger und an Corona gestorbener  Duo-Partner seines Vaters und der Festivaldirektorin Evelinde Trenkner-Boie. Improvisationen mit Verve und rhythmischem Drive rundeten diesen Abend ab. - Die Gedenkveranstaltung für Evelinde Trenkner-Boie und Hermann Boie wird sowohl durch die prägnaten Moderationen von deren Leibarzt Dr. Heinz Noftz als auch der reibungslosen Organisation in bester Erinnerung bleiben. Ob dieses einmalige, durch die Persönlichkeiten seiner Gründer profilierte Internationale Lübecker Kammermusikfestival fortgesetzt wird, ist zwar zu wünschen, aber noch nicht von der Scharwenka Gesellschaft e.V. entschieden.